oder:
MANEGE FREI FÜR INSPEKTOR COLUMBO!
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KAPITEL 1
Es war ein milder Oktobertag in Los Angeles. Der in die Jahre gekommene Delbert Holtgrave war mit einem weißen Schutzanzug und Handschuhen gerüstet, als er seinen etwa gleichaltrigen Freund Frederic Southwisher durch ein engmaschiges Netz vor seinem Gesicht ansprach:
"Dann rühr dich jetzt mal nicht, Frederic, denn ich öffne den Honigraum. Da habe ich letzte Woche die Waben geerntet und gewechselt und wollte mal gucken, was die Bienen seitdem so fabriziert haben."
Wenig interessiert beobachtete Frederic aus sicherer Entfernung die Handgriffe seines Freundes. Der stellte fest:
"Die Brummer sind noch damit beschäftigt, die Feuchtigkeit aus dem Honig raus zu ventilieren. Erst bei 12% Feuchtigkeit deckeln sie alles hermetisch dicht zu."
"Lass mal stecken, Delbert! Um einen Imker-Crashkurs zu absolvieren, habe ich nicht bei dir vorbeigeschaut."
"Dann hast du wohl neuen Gesprächsstoff für unsere philosophischen Sitzungen?"
"So kann man es nennen. Trenn dich von deiner Tracht und lass uns es uns drinnen bequem machen!"
Delbert verließ die naturbelassene Zone seines Gartens und zog sich um, während Frederic es sich im Haus auf dem Sofa gemütlich machte. Er fing zu erzählen an:
"Ich bin so froh, dass ich meinem Spieltrieb treu geblieben bin. Weißt du noch, wie du mich mal vom Mega-Millions-Spielen abbringen wolltest mit dem Argument, dass der addierte Frust Woche für Woche die einmalige kurze Freude im Falle eines echt hohen Gewinns niemals 1:1 aufwiegen könnte?"
"Ich weiß alles noch, worüber wir jemals diskutiert haben", versicherte ihm Delbert.
"Ich hätte um ein Haar wirklich mit dem Lotteriespielen aufgehört."
"Sag bloß, du hast mal endlich abkassiert!"
Delbert machte sich und Frederic einen Drink und stellte die Gläser auf den Tisch zwischen dem Sofa und dem Sessel, in dem er Platz nahm.
"Ich habe nicht den Jackpot geknackt. Dazu fehlte mir die 1 aus 25. Aber die 5 aus 56 hatte ich alle richtig getippt."
"Dann müsstest du ja jetzt Dollar-Millionär sein."
"Genau das ist die Summe, die auf mein Konto geschwemmt wurde."
"Irre!"
Delbert reichte Frederic die Hand zum Gratulieren.
"Wie ich dir das gönne nach 20 Jahren Misserfolg. Beharrlichkeit ist eine Tugend."
Selbstzufrieden lächelte Frederic in seinen Bart und steuerte auf den Kern der Diskussion zu.
"Dieser Glücksfall verändert auch unsere Situation, in der wir beim vergangenen Wortwechsel noch waren, als wir über Korruption, Ethik und menschliche Abgründe theoretisierten. Du erinnerst dich an unseren Diskurs, hoffe ich."
"Ich wiederhole: Ich erinnere mich an alles, worüber wir jemals diskutiert haben. Die Korruptions-Debatte bleibt eine wegen ihrer Ungemütlichkeit unvergessliche Konversation. Wir hatten wie so oft gegensätzliche Standpunkte."
Frederic resümierte:
"Du hast dich für die Hypothese stark gemacht, jeder ausgewachsene Mann wäre bestechlich und würde gegen ausreichende Bezahlung gesetzwidrige und unmoralische Taten begehen, wenn er einen Weg wüsste, wie er seiner Strafverfolgung entgehen kann, wie er sein Verbrechen tarnen kann."
"Völlig richtig. Dabei bleibe ich."
"Konkret meintest du, dass sogar du dich zur abscheulichsten Schandtat hinreißen lassen würdest, wenn erstens die Bezahlung hoch genug wäre und zweitens du dir sicher wärest, dass die Tat unentdeckt bleibt. Und meine Behauptung war, weil du nicht von Natur aus böse und gewissenlos bist, würde dein ethisches Bewusstsein dir rechtzeitig die Bremse reinhauen und dich an der Ausführung der Schandtat hindern."
"Als Summe, mit der man mich locken könnte, nannte ich 100.000 $."
"Bislang konnten wir keinen Praxistest machen, weil ich über so viel Kohle nicht verfügte, aber jetzt kann ich dir so einen hohen >>Wettgewinn<< anbieten."
Frederic machte eine dramaturgische Nachdenkpause.
"Welche Sünde ist für dich noch gleich die schwerste von allen denkbaren?"
Delbert schlug die Oberschenkel übereinander und sprach:
"Soweit ich weiß, bekommt man die höchste Strafe für vorsätzlichen Mord, und Mord ist auch jenes Verbrechen, dem ich selbst am wenigsten gerne zum Opfer fallen möchte."
"Dies wäre der Deal, den ich einzugehen bereit wäre: Du begehst irgendeinen Mord. Mir soll egal sein, an wem, solange das Opfer für mich ein Fremder ist. Du lässt mich dabei Zeuge sein. Und wenn der Mensch tot ist und du nicht gekniffen hast, gebe ich dir 100.000 $ und sehe ein, dass ich mit meinem Standpunkt falsch lag."
Delbert geriet ein wenig außer sich.
"Das grenzt an Wahnsinn, Frederic, auch wenn du das so cool daher sagen kannst, als wäre es ein schlitzohriges Spielchen."
Der Freund blieb gelassen und grinste.
"Dann bleibt das Geld bei mir und ich kann weiterhin behaupten, dass du im Unrecht bist. Auch nicht schlimm für mich."
Delbert, stets kritisch mit sich selbst, fügte nur noch hinzu:
"Ich bin ja immer im Unrecht, weil ich ein Trottel bin. Das habe ich dir oft genug gesagt."
"Ja", bestätigte Frederic selbstzufrieden und schwieg.
Aber Delbert dachte ein zweites Mal über das unmoralische Angebot nach.
"Wenn ich wenigstens mit jemandem befeindet wäre, den ich gerne aus der Welt hätte, dann wäre das ein motivierender Anreiz."
"Aber dann hättest du ein Mordmotiv und würdest ins Visier kriminalistischer Ermittlungen geraten. Das willst du doch vermeiden. Ich kenne auch keinen persönlich, den ich gern tot sehen würde."
"Und an irgendwelche Herrscher aus der Regierung kommt man nicht ran; die haben Leibwächter und Scharfschützen in sicherer Entfernung."
"Abgesehen davon, dass das alles Tanzpuppen sind, deren Strippenzieher hinter der Bühne unsichtbar bleiben, so dass ein Mord im Dienste des Volkes vergebens wäre. Also kannst du genauso gut ein Zufallsopfer ohne Bodyguard auswählen, bei dem es an öffentlichem Interesse mangelt."
"Das Unternehmen wird daran scheitern, dass ich keine Idee habe, wen ich wie, wo, wann umbringen sollte."
"Dabei helfe ich dir gerne mit der von mir entwickelten und nach mir benannten >>Southwisher'schen ABCD-Methode<<. Die Fragen wer, wie, wo und wann werden wir uns damit beantworten. Nenne mir einen Beruf, der mit A anfängt, zum Beispiel Anwalt, oder eine Personenbeschreibung wie etwa Angler oder Analphabet!"
Delbert dachte kurz nach und sprach:
"Artist."
"Mann oder Frau?"
"Hauptsache kein Kind, der Rest ist mir wurscht."
"Einverstanden, Delbert! Nun nenne mir eine Mordwaffe mit B, zum Beispiel Bombe oder Ballermann."
"Ich besitze keine Bombe und keinen Ballermann. Meine Bienen sind mein Hab und Gut, also sage ich Bienen. Echt irre, deine Southwisher'sche ABCD-Methode!"
"Ja, sie ist genial einfach und darum einfach genial. Um vier definierte Parameter herum lässt sich jedes beliebige Gespinst konstruieren. Nenne nun einen Ort mit C, an dem der Mord durchgeführt werden soll, zum Beispiel Chefbüro oder Chemielabor oder Chile, falls du im Ausland morden möchtest."
"Eher China, da sind eh schon genug Menschen. Aber ich sage Circus, denn Artisten kann man dort antreffen."
"Du willst also einen Zirkusartisten im Zirkus mit deinen Bienen ermorden. Wie es die Fügung des Schicksals will, war ich erst letztes Wochenende mit Mathilda in Malibu in einem Zirkus. Wann willst du dort tätig werden? Nenne einen Zeitpunkt mit D!"
"Demnächst. Bevor der Zirkus weiterzieht."
"Dann musst du den Plan rasch entwerfen und perfektionieren, weil in Malibu kommenden Sonntag der letzte Tag ist, an dem dieser Zirkus gastiert."
Delbert begann sich für den Plan zu erwärmen.
"Das trifft sich ja gut, dass du dir das Programm sogar schon angesehen hast! Da kannst du mir Tipps geben. Welche gefährlichen Attraktionen, bei denen man theoretisch sterben könnte, werden dort geboten? Welche Nummer lässt sich für einen hinterhältigen Mordanschlag ausnutzen?"
"Da brauche ich nicht lange zu überlegen. Höhepunkt der Show war zweifellos die Hochseilartistin. Diese Lebensmüde tänzelt wahrhaftig ohne Sicherungsleine in fünf Metern Höhe auf einem ganz schön langen Seil, unter dem nicht etwa eine Matte, sondern eine Reihe senkrecht aufgestellter Speere angebracht ist. Wenn die Seiltänzerin das Gleichgewicht verlieren sollte und es nicht schafft, sich am Seil festzuklammern, oder falls sie von Kollegen nicht schnell genug runtergeholt werden würde..."
"...oder falls meine Bienen sie aus ihrer Konzentration bringen sollten..."
Frederic schlug seine Faust auf die Innenfläche seiner Hand.
"Der Plan ist doch voll narrensicher, Delbert! Bienen fliegen automatisch ins Licht, und während des Seiltanzens ist ein Scheinwerfer auf die Artistin gerichtet. Jeder im Zirkuszelt würde in einem Sturz einen selbstverschuldeten Unfall sehen."
"Narrensicher ist übertrieben. Der Rohentwurf des Plans braucht schon noch Politur. Ein Bienenschwarm würde schließlich allen auffallen. Also dürfte ich nicht mehr als zwei, drei Bienen loslassen, die auch zufällig ins Zelt geflogen sein könnten. Und der Lichtkegel eines Scheinwerfers ist groß. Die Bienen dürften sich nicht irgendwo im Licht aufhalten, sondern sie müssten ganz nah an die Seiltänzerin heran, damit die sich auch gestört fühlt und vielleicht nach ihnen schlägt, um sie zu vertreiben, und dabei die Balance verliert und in den Tod stürzt. Wie könnte ich das Bienenverhalten so genau lenken?"
"Du müsstest sie irgendwie aggressiv machen. Du als Imker weißt da bestimmt besser Bescheid als ich."
"Ich habe ein südamerikanisches Duftöl, auf dessen Geruch Bienen heftig reagieren und auch drauf los stechen würden, wenn jemand danach duftet."
"Gut! Wie kannst du es erreichen, dass die Artistin nach diesem Öl duftet?"
"Ich müsste das Öl einem handelsüblichen Parfum beimischen und die Frau damit besprühen."
"Dann müssten wir darauf spekulieren, die Seiltänzerin zufällig vor der Show auf dem Zirkusgelände anzutreffen, und müssten mit ihr in Kontakt treten."
"Wäre ja kein Ding der Unmöglichkeit. Na gut. Als alter Rechthaber und Besserwisser lasse ich mich auf den Praxistest ein! Mit der Freilassung der Bienen während der Zirkusvorstellung beweise ich dir meine Korrumpierbarkeit."
"Aber dafür alleine gibt es noch nicht die Kohle. Dafür müsste der Plan schon aufgehen und ein Mensch draufgehen. Ein missglücktes Attentat würde zwar deine Böswilligkeit beweisen, macht aber noch keinen Mörder aus dir. Das wäre mir nicht 100.000 wert."
Delbert sah ein:
"Ich werde noch genau darüber nachdenken müssen. Wir sehen uns in Kürze."
KAPITEL 2
Es war Samstagabend. Inspektor Columbo kam erschöpft und müde nach einem langen, harten Arbeitstag im Police Department nach Hause. Als er den Schlüssel in die Haustür steckte, kam ihm heute nicht seine Frau entgegen, sondern sein Großneffe Milano, der mit Papa Andy und Mama Melissa aus Malibu zu Besuch übers Wochenende gekommen war. Mrs. Columbo war in der Küche und bereitete das Abendessen für alle vor.
"Großonkel Columbo!", rief Milano erfreut, als dieser sich in den Sessel setzte und erstmal eine Feierabendzigarre anzündete.
"Ich will ein Geschenk von dir. Ich habe doch morgen Geburtstag, und übermorgen fangen auch noch meine Herbstferien an."
Columbo nahm Milano auf seinen Schoß und legte die Zigarre in den Aschenbecher, den Mrs. Columbo vor vielen Jahren aus einem Restaurant gestohlen hatte.
"Ist nicht ein Wochenende bei deiner Großtante und mir hier in der Engelsstadt Los Angeles das himmlischste Geschenk?"
Milano zog eine unzufriedene Schnute.
"Das reicht aber noch nicht als Geburtstagsgeschenk."
"Na, Andy und Melissa, alles klar? Übernachtet ihr hier?", wandte Columbo sich den anderen Besuchern zu.
"So war es abgemacht", sagte Melissa Parma, und ihr Mann Andy meinte, sie hätten sich heute mit Mrs. Columbo bereits das Shopping Center angesehen und dort kräftig zugeschlagen.
"Was machen wir morgen?", fragte Milano.
"Ausruhen!", meinte Columbo. Neffe Andy hatte andere Pläne:
"Der spektakuläre >>Circus Sensatio<< gastiert zur Zeit bei uns in Malibu. Wollen deine Frau und du nicht morgen auf unserer Rückfahrt uns hinterherfahren, damit wir uns gemeinsam zu fünft die Vorstellung anschauen? Der Besuch soll unser Geschenk für Milano sein."
"Ich mache mir nichts aus Zirkussen. Ist das überhaupt die korrekte Mehrzahl?", entgegnete Columbo lustlos an seiner Zigarre ziehend.
"Piepegal sei mir die Mehrzahl! Was zählt, sind die sehenswerten Attraktionen!", meinte Melissa.
"Ach, Mrs. Columbo und ich, wir waren doch noch nie in so einer Bespaßungsveranstaltung, in der die ernsten Themen, die die Welt bewegen, gezielt ausgeblendet werden."
"Problemausblendungen können der Seele wohlige Kräftigung sein. Lass dir das von einem Polizeikollegen gesagt sein. Ich zahle uns auch den Eintritt", lockte Andy seinen Onkel, und auch der kleine Milano drängte seinen Großonkel dazu, mit in den Zirkus zu kommen:
"Biiiitte! Dann bist du auch mein Lieblingsgroßonkel und mein Lieblingspolizist. Du weißt, ich will doch auch mal Polizist werden, wenn ich groß bin. Großtante Columbo findet es auch eine schöne Idee, zu meinem Geburtstag in den Zirkus zu gehen."
"Ich muss auf meiner Arbeit schon oft genug verlogenen Menschen schmeicheln und Begeisterung heucheln, wo ich in Wirklichkeit bloß Abneigung empfinde. Ich mag das nicht auch noch in der Familie machen. Ich kann nicht so tun, als würde ich eine dumme Zirkusveranstaltung super finden, nur damit du dich freust, Milano."
"Dann tust du eben nicht so! Dann sagst du eben ehrlich deine Meinung!", drängelte das Kind.
"Ich darf also immer, wenn ich etwas blöd finde, meckern? Und ihr hört euch das dann geduldig an? Ehrenwort?"
Milano nickte heftig mit sonnigem Lächeln und Columbo wurde nun doch weich.
"Dann bin ich einverstanden. Einladungen zu verschmähen wäre ohnehin unhöflich. Für dich und deinen Geburtstag komme ich mit. Großtante und ich fahren euch bis nach Malibu hinterher und nach dem Abschied alleine wieder zurück, denn für fünf ist in eurem Wagen nicht genug Platz. Aber wir fahren nur, wenn es heute Nacht und morgen früh nicht so viele neue Morde in Los Angeles gibt, dass ich auf meinen freien Sonntag verzichten muss."
"Oh Herrgott, bitte richte es so ein!", stieß Milano ein weises Gebet Richtung Himmel über der Engelsstadt.
KAPITEL 3
Der Sonntag kam. Es trafen sich Delbert Holtgrave und Frederic Southwisher wieder am selben Ort wie Tage zuvor. Das gemeinsam geschmiedete Komplott war nun gedanklich ausgereift. Delbert berichtete:
"Ich fuhr am Freitag extra in einen auswärtigen Discounter, wo mich kein Verkäufer kennt, der sich wundern könnte, was ich mit Damenparfum will."
"Bar bezahlt oder mit der Überwachungskarte?"
"Wo immer es noch geht, zahlt man bar. Ich habe den Verschluss geöffnet und meinen Südamerika-Weihrauch hinein geträufelt. Ein Test an meinen Bienen brachte das gewünschte Resultat: Sie flogen von überall auf mich zu. Ich musste mich im Bad einschließen und mir das Zeug runterwaschen."
"Und wie gedenkst du die Brummer in den Zirkus einzuschleusen?"
Delbert zeigte ein streichholzschachtelgroßes Behältnis vor.
"In der Hemdtasche, wo genug Luft dran kommt. Bis zum großen Auftritt der Zweiflügler müssen sie in dieser mit Luftlöchern versehenen Schachtel ausharren. Artgerechte Haltung geht anders, aber für 100.000 mögliche $-Mücken müssen Prinzipien abdanken."
"Du überschätzt den Wert von Geld, Delbert", warnte Frederic auf dem Weg zur Garage.
"Das sagt mir ein jahrelanger Mega-Millions-Spieler! Reizend", lachte der Imker und öffnete seinem Freund die Wagentür. Die Fahrt nach Malibu konnte beginnen.
Zur selben Stunde machten sich auch Inspektor Columbo, sein Neffe Andy, dessen Frau Melissa und Geburtstagskind Milano auf den Weg in dieselbe Stadt mit demselben Ziel: Circus Sensatio. Vorne im Wagen saßen Andy, der das Steuer bediente, Melissa auf dem Beifahrersitz, Columbo und das Kind fest angeschnallt auf den beiden Rücksitzen. Mrs. Columbo war kurzentschlossen daheim geblieben; ihr war nicht gut. Aber Columbo hielt sein Wort, um Milanos Lieblingsgroßonkel zu werden. Auf diese Art konnte man praktischerweise gleich die Fahrt mit zwei Wagen vermeiden und den alten Peugeot schonen. Columbo würde mit einem Zug zurück nach L.A. fahren.
Begleitet von Stimmungsmusik schallte eine stechende Stimme über den Platz, auf dem das gut neun Meter hohe Zirkuszelt aufgestellt worden war:
"Herbei, Leute, eilt alle herbei in den Circus Sensatio! Heute ist Ihre letzte Chance, meine Herren und Damen und Kinder! Versäumen Sie nicht unsere atemberaubende Abschiedsvorstellung in Ihrer Stadt mit sensationellen Sensationen für ein männlich-weiblich-diverses Publikum!"
"Ja, Pleitebetriebe müssen um jeden Kunden buhlen", lachte Andy spöttisch, während er sich zu Fuß mit seiner Familie dem rot-gelb-gestreiften Zelt näherte.
"Lauft doch einen Schritt schneller, sonst fangen die ohne uns an und wir kommen nicht mehr rein!", drängte Milano. Großonkel Columbo blieb unbesorgt:
"Dieses Unglück würden wir gesund überstehen."
Unweit des Zirkuszeltes standen allerlei Tiere, Wohnwagen und Anhänger. Delbert und Frederic standen auch dort und hielten Ausschau.
"Wer ist die Seiltänzerin?", fragte Delbert, der sein geplantes Tötungsopfer noch nie gesehen hatte.
"Diese da, die gerade ihren Wohnwagen abschließt. Sie nennt sich die Wandernde Wendy. Viel Erfolg mit ihr!", wünschte ihm der Millionärsfreund.
Selbstbewusst ging Delbert mit Anzug und Krawatte vornehm gekleidet auf die Zirkusartistin zu und sprach sie an:
"Können Sie mir meine Aufdringlichkeit verzeihen, werte Wendy? Ich habe bei einem Ihrer Auftritte diese Woche Kenntnis von Ihrer beeindruckenden Hochseilkunst genommen", lächelte er.
"Das haben Sie aber charmant formuliert, mein Herr", fühlte Wendy sich geschmeichelt.
"Ich würde es mir nicht nehmen lassen, so weit zu gehen, zu behaupten, dass Ihr Showact den Höhepunkt der gesamten Vorstellung bildet. Wie kann man nur so furchtlos über lebensgefährlich spitzen Speeren balancieren, ganz ohne Sicherheitsseil? Ist das nicht Irrsinn?"
"Auf die Speere kommt es im Grunde nicht an", führte die Artistin aus.
"Würde ich fünf Meter runterfallen, wäre mein Genick auch gebrochen, selbst wenn da keine Speere stünden. Die Speere machen es optisch nur noch spektakulärer für die Show, machen aber meinen Seiltanz in keinster Weise riskanter."
"Wie sind Sie bloß auf die Idee gekommen, so etwas Gefährliches arbeiten zu wollen?"
"Ich wurde schon als Kleinkind von meinen Eltern an die Hochseilakrobatik herangeführt. So verlor ich frühzeitig die Angst und gewann die Faszination an schwindelnden Höhen. Ein unter zehn Meter niedriges Zirkuszelt verlangt mir da keinen Respekt ab."
"Verstehe: Ihr Wissen, dass Sie über lebenslange Erfahrung verfügen und die Überzeugung, dass nichts Sie aus der Ruhe bringen kann, lassen Sie die Lebensgefahr weglächeln", sagte Delbert mit gespielter Menschenfreundlichkeit, auf die die Künstlerin naiv herein fiel.
"Kein Zuschauer ist so böse im Herzen, dass er Tennisbälle auf mich werfen würde, um mich stürzen zu sehen. Die Gunst des Publikums trägt mich innerlich und mein Glauben an sein Wohlwollen stärkt mich."
"Aha, eine Tennisballattacke würde Sie also schon aus der Konzentration bringen? Aber dann würden Sie sich doch bestimmt im Sturz an dem Seil festklammern?", testete Delbert heimtückisch seine Erfolgschancen aus.
"Nur wenn ich es zu packen kriegen würde. Wenn aber nicht, wäre es aus mit mir."
"Dass es dazu jemals kommt, wollen wir aber nicht hoffen", schwindelte der zum Mord Entschlossene, der in Wahrheit genau das hoffte.
"Dass es dazu jederzeit kommen könnte, macht meinen Seiltanz zur Sensation", entgegnete Wendy. Delbert holte aus seiner Jackentasche ein Präsent hervor.
"Sie würden mir einen Dienst erweisen, wenn Sie als Zeichen meiner großen Bewunderung eine kleine Aufmerksamkeit annehmen könnten."
"Freundlich von Ihnen! So etwas erlebe ich nicht alle Tage", freute sich die Seiltänzerin. Ihr Strahlen konnte über eine Zahnlücke und eine schief geratene Mundwinkelpartie nicht hinwegtäuschen.
"Wirklich nicht? Eine Dame von solch graziöser Anmut wird nicht überhäuft mit Fangeschenken?"
"Sie sind überaus charmant, mein Herr!"
"Und vor allem noch zu haben! Schon was vor heute Abend?", lächelte er falsch.
"Das werde ich vom Inhalt Ihres Geschenks abhängig machen. Muss erstmal hineinschauen."
Wendy löste die gebundene Schleife und öffnete erwartungsvoll die Schachtel. Ihr breites Lächeln bildete sich zurück.
"Ein Parfum. Na ja, sowas habe ich schon oft geschenkt bekommen, meistens zu Weihnachten."
"Aber bestimmt noch nie diesen Spezialduft."
Wendy wollte sich nicht von dieser doch recht konventionellen Aufmerksamkeit ihre geweckten Hoffnungen auf einen vielleicht wohlhabenden Partner zerstören lassen.
"Na fein. Um 21 Uhr in meinem Wohnwagen werde ich ihn Ihnen zuliebe auftragen, okay?"
Siegesgewiss nahm Delbert sein Geschenk aus der Schachtel und setzte den Finger zum Sprühen an.
"Lassen Sie mich aber bitte jetzt schon wissen, wie Ihnen der Spezialduft zusagt!"
Nachdem unerwartet eine Duftwolke ihr Gesicht umnebelte, stieß Wendy hustend hervor:
"Ich finde ihn himmlisch."
Angeregt durch den Duft wurden die Bienen in der Hemdtasche hörbar. Wendy bemerkte es.
"Aus Ihrer Brust brummt es so sonderbar."
"Das ist, weil mein Herz unter Strom steht."
Sie lachte.
"Also, ich muss ins Zelt, die Show geht gleich los, aber Sie dürfen um 21 Uhr bei mir anklopfen."
"Ich werde da sein, Wendy."
Man ging auseinander, denn die Vorstellung begann tatsächlich bald.
KAPITEL 4
Frederic, der aus der Ferne beobachtet hatte, dass die beiden ihr Kennenlerngespräch beendet hatten, wobei er das eine oder andere Wort mitgehört hatte, näherte sich seinem Begleiter an.
"Ich werde da sein", zitierte Frederic Delbert grinsend, "das war doch wohl gelogen! Du wirst nicht da sein."
"Wendy aber womöglich selber nicht."
Sie gingen zum Eingang des Zirkuszeltes.
"Lass uns lieber einen Sitzplatz in der vordersten Reihe nehmen", schlug Frederic vor. Delbert betrachtete das als sinnvolle Investition.
"Einverstanden. Die kostet zwar zwei Dollar mehr, aber dafür sitzt uns niemand vor den Augen."
"Delbert, du auch hier? Naaa?", drang beim Durchschreiten des Ganges zwischen den Sitzreihen eine Stimme an Delberts Ohr. Er sah sich kurz um und entdeckte einen Bekannten aus Los Angeles.
"Grüß dich, Rod. Welche Überraschung! Wo man sich überall begegnet!"
"Bin gerade in Malibu."
"Ich auch, wie man sieht. Viel Spaß bei der Vorstellung!"
Er ging weiter nach vorne und nahm den bezahlten Premiumplatz in Reihe 1 ein. Frederic setzte sich neben ihn.
Die Kasse am Eingang hatte noch nicht geschlossen, als Inspektor Columbo mit seiner Familie sie erreichte. Neffe Andy wollte auch gerne in Reihe 1 sitzen, aber die war nun voll besetzt.
"Siehste? Zu spät! Wie ich gesagt hab'!", beschwerte sich Milano.
"Dann drei Erwachsene und ein Kind für Reihe 2 bitte", bestellte Andy die Eintrittskarten.
"Reihe 2 ist auch supergut", beruhigte Columbo den Großneffen.
"Hier mieft es nach Pferdehaaren!", meckerte Milano.
"Soll ich für dich fragen, ob man hier auch Nasenverschlussklammern mieten kann?", schlug Columbo scherzhaft vor.
Die Öffnung am Eingang wurde geschlossen und es wurde dunkel im Zelt. Doch sogleich ging ein Scheinwerfer an und beleuchtete den Ansager in der Manege, als er in ein Mikrofon zu sprechen begann.
"Herziges Willkommen, meine hochgeschätzten Herren, Kinder, Transdiversen und Damen zur Abschlussvorstellung des Circus Sensatio in Malibu! Hierher zu pilgern war genau die richtige Entscheidung, denn unsere Show werden Sie im Leben nicht vergessen."
"Das kann gut sein", dachte Delbert stumm bei sich.
"Ich will keine langen Reden schwingen. Worte sind überflüssig, wenn Sensationen für sich sprechen! Sehen wir uns den ersten Programmpunkt des an Sensationen üppig ausgeschmückten Nachmittags an! Heißen Sie mit einem Bombenapplaus herzig willkommen: Billy-Joe Bang, die lebende Kanonenkugel!"
Das Publikum applaudierte, als Billy-Joe Bang sich verneigte und ein Treppchen vor einer Kanone hochstieg.
"Todesmutig begibt Billy-Joe sich in die Kanone und ich entfache das Feuer an der Zündschnur."
Der Ansager zündete ein Feuerzeug an und mit einem lauten BUMM wurde Billy-Joe aus dem Kanonenrohr hinausgeschleudert. Im Fall gewann er Körperkontrolle und landete auf seinen Beinen. Er begab sich in eine Siegerpose. Der Ansager ergriff das Wort.
"Zwar ist seine Hose ramponiert, doch steht Billy-Joe Bang völlig unversehrt auf seinen zwei Beinen. Da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Herren und Damen!"
Columbo kommentierte für seine Begleiter diesen Show-Opener in seiner Sitzreihe Nummer 2:
"Na, wenn das kein bombiger Auftakt war!"
"Sag das doch nicht mit so einem ironisch-gelangweilten Unterton", forderte ihn Melissa auf, "das war doch wirklich eine Leistung! Ich möchte nicht aus einer Kanone abgefeuert werden."
"Dabei würde so wenig Sprengstoff verwendet, dass dir gar nichts passieren könnte, außer vielleicht einem verstauchten Knöchel beim Landeanflug."
Der Ansager pries schon die zweite Sensation des Nachmittags an:
"Bestaunen Sie als nächstes unseren Dompteur des Schreckens! Maurice Moulfoul. Todesmutig steckt er seinen Kopf in das hungrige Löwenmaul. Es kann die Bestie jeden Moment zum Killer werden. Zweimal schon wurde der Kopf von Maurice abgebissen und unser Zirkusdoktor musste ihn wieder annähen. Passiert das heute zum dritten Mal?"
Columbo hatte einen Kritikpunkt und scheute sich nicht, ihn zu äußern:
"Für wie dumm hält denn der sein Publikum? Ein abgebissener Kopf bedeutet den sofortigen Exitus. Da kannst du als Arzt nähen so viel du willst - der Patient ist danach hin!"
"Das war doch klar erkennbar als Witz gemeint!", verbesserte Andy seinen Onkel.
"Eher klar erkennbar als Werbelüge. Der hungrige Löwe ist garantiert pappsatt und für alle Fälle hat man ihm noch die Zahnspitzen abgestumpft. Wenn der Löwe so eine gefährliche Bestie ist, wieso kann dann der Ansager ungeschützt einen Meter daneben stehen?"
"Die kennen sich!", rief Milano und klärte damit Columbos kleine Unklarheit.
"Du bist ein Stimmungsmörder, sei bitte still und verdirb Milano nicht den Spaß!", wies Melissa ihren Schwiegeronkel zurecht.
"Ich habe einen Deal mit ihm. Ich darf meckern, wenn mir danach ist", rechtfertigte sich Columbo, als der Ansager ihm ins Wort fiel:
"Unser Schreckensdompteur bleibt seit einer Minute unerschrocken. Da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Herren und Damen und Kinder! Applaus!"
Die Zuschauer spendeten Beifall; aus Höflichkeit applaudierte Columbo auch.
"Unsere nächste Sensationsdarbietung: der Jongleur Wirbel-William. William erhitzt Hufeisen auf dem Grill und wirbelt sie, wenn sie glühen, mit bloßen Händen durch die Luft. Da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Herren, Transdiversen, Kinder und Damen! Applaus!"
Der Applaus kam bedingungslos, aber diesmal nicht von Columbo.
"Wenn Wirbel-William sich die glühenden Hufeisen nun auch noch unter seine nackten Füße nagelt und damit wiehernd wie ein Gaul von der Bühne galoppiert, dann klatsche auch ich gerne Beifall."
Milano stieß ein Lachen hervor, aber Melissa ließ nicht locker.
"Musst du zu jeder Nummer deinen Senf dazugeben, du Lästermaul?"
"Ich muss das nicht, Melissa, aber ich darf das. Es war die Voraussetzung dafür, dass ich mitkomme, stimmt's, Milano?"
"Du sagst witzige Sachen, da muss ich sogar drüber lachen!"
Die Show setzte sich fort. Delbert Holtgrave wartete ungeduldig auf den einzigen Programmpunkt, der ihn interessierte.
"Und nun bitte Applaus für Debbie Dagger, unsere Schwert-, Dolch-, Degen- und Messerschluckerin! Als sei es Speiseeis, lässt Debbie sich die geschliffenen Klingen in ihren Rachen rutschen. Da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Kinder, Herren und Frauen! Applaus!"
Delbert und Frederic applaudierten stumm, beide noch immer in Erwartung eines bestimmten Programmhöhepunktes, der noch nicht an der Reihe war.
"Bestaunen Sie auch meinen großwüchsigen Sohn Big Boy! Mit sechs Jahren überragt er mich bereits um 10 Zentimeter an Körpergröße."
"Kein Wunder", meinte Columbo, "der Ansager ist ja sogar noch kleiner als ich."
Milano lachte wieder. Der Ansager war sich sicher:
"Aus Big Boy wird später mal DER Riesenartist unserer Show. Da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Kinder, Transdiversen, Herren und Damen! Applaus!"
"Dieses permanente Hochjubeln der eigenen Show und Mitarbeiter geht mir bereits nach fünf Nummern gewaltig auf den Keks!", motzte Columbo.
"Erfreu dich bitte an den Leistungen der Artisten und nicht an den Ansagetexten des Direktors!", forderte Andy ihn auf.
"Zeeeehn Bälle vermag Luke Leder unter seinen Füßen aufzutürmen und darauf zu balancieren! Und als wäre das noch nicht Sensation genug, balanciert Luke obendrein einen elften Ball auf seinem Kopf! Da frag' ich Sie doch nur: Ist das nicht sensationell, meine Herren und Damen? Applaus!"
Woran Columbo am meisten Gefallen fand, war das gegebene Einverständnis, sich mit seinem Lästermaul nicht zurückhalten zu müssen.
"Hat der Ansager nicht anfangs gesagt, Worte seien überflüssig, wenn Sensationen für sich sprechen? Warum hält er sich dann nicht an diese Devise, sondern quält sein Publikum nach jeder Nummer mit immer demselben Satz?"
"Gerade hat er aber den Standardsatz leicht abgeändert und in Frageform gesetzt!", berichtigte ihn Melissa.
Es folgten noch mehrere Programmpunkte. Endlich aber zog ein Funkeln in die Augen von Delbert Holtgrave ein, als eine lange Leiter und das Hochseil für seine Wendy in die Manege gerollt wurden.
"Kommen wir nun zu einem weiteren Höhepunkt unseres Sensationsmarathons! Applaus für die Wandernde Wendy mit ihrem Todesseiltanz! Ohne Sicherungsleine wird Wendy über diese spitzen Eichenholzspeere hinweg spazieren - auf einem nur drei Zentimeter breiten Seil in fünf Metern Höhe. Ich bitte um atemlose Ruhe im Zelt. Diese waghalsige Sensationsdarbietung verlangt unserer Künstlerin die volle Konzentration ab. Wir werden jetzt das Zelt abdunkeln, denn jede Bewegung von Ihnen, meine Herren, Damen, Diversen und Kinder, kann Wendy irritieren. Nur der eine Scheinwerfer wird Wendy auf ihrem Todesseiltanz verfolgen."
Bevor die Hauptbeleuchtung ausging, warf ein grinsender Frederic Southwisher seinem Sitzreihennachbarn einen wissenden Blick zu. Während Wendy die Leiter hochstieg, glitt Delbert Holtgraves Hand unter seinem Jackett in die Brusttasche seines Hemdes und holte das Behältnis mit den drei Bienen hervor.
Columbo, der schräg dahinter saß, hatte derweil nur Augen für Wendy.
"Ich mit meiner Höhenangst würde mich noch nicht mal die lange Leiter hoch wagen", sagte er, und Melissa wusste es zu schätzen, dass er endlich mal ein Wort des Respekts für eine Zirkusattraktion übrig hatte.
Delbert öffnete seine Pappschachtel, schüttelte die Insekten heraus und beobachtete, wie sie ihrem Freiheitsdrang nachgaben und fort flogen. Sekunden später, als die Wandernde Wendy bereits ihre Füße auf dem Hochseil hatte, schwirrten die Bienen in den Lichtkegel des Scheinwerfers und, angelockt durch Wendys künstliches Körperaroma, direkt auf die Artistin zu. Diese bemerkte die Bienen und versuchte, sie zu verscheuchen.
"Weg mit euch, ihr Viecher! Macht die Fliege, ich muss mich konzentrieren!"
Als Wendys rechter Fuß neben die gebotene Stelle trat und abrutschte, geriet ihr ganzer Körper aus der Balance. Wendy verlor die Kontrolle über ihren Tanz, ihren letzten Tanz.
"Sie stürzt!", rief ein Kind aus der abgedunkelten Menge. Jemand kreischte, als Wendys Rumpf Kontakt mit den Eichenholzspeeren machte.
"Mein Gott, furchtbar!" rief ein anderer. Wendy sagte nichts mehr und Melissa hielt Milano die Augen zu.
"Mami, was ist jetzt mit der Seiltänzerin?"
Columbo antwortete für Milanos Mutter, als diese keine Ahnung hatte:
"Die Wandernde Wendy ist vermutlich bereits ins Jenseits gewandert und hat keine Schmerzen mehr."
Andy deckte seinen offenen Mund mit der Hand ab.
"Unfassbar! Ich bin erschüttert."
"Scheinwerfer aus!", rief aus der Manege der Ansager, dem es daraufhin die Sprache verschlug. Im Zelt wurde es nun ganz dunkel. Columbo lauschte aufmerksam dem Stimmengewirr. Jemand aus der finsteren Menge übernahm für den verstummten Ansager dessen Moderationstext:
"Todesseiltänzerin macht dem Namen ihres Programms alle Ehre und verreckt - da sag' ich doch nur: Sensationell, meine Herren Zuschauerinnen! Applaus!"
Jemand fühlte sich frei von Respekt und lachte darüber. Ein weiterer Zuschauer empörte sich:
"Boar, du bist so ein konkurrenzloses Arsch! Ich schäme mich dafür, dich zu kennen."
Forderungen pietätloser Zuschauer, das Licht wieder anzumachen, um sehen zu können, wie es der Wandernden Wendy ging, wurden nicht erhört. Was Columbo nicht sehen konnte: Frederic Southwisher klopfte Delbert Holtgrave auf die Schulter wie ein stolzer Vater, der seinen Sohn für eine starke Leistung lobt.
"Wann kommt denn die nächste Nummer?", fragte jemand.
Der Ansager sprach in der Manege in ein Handy:
"Können Sie ganz schnell Ihre fähigsten Nothelfer in meinen Circus Sensatio entsenden? Unsere Seiltänzerin verlor das Gleichgewicht und braucht den besten Lebensretter."
KAPITEL 5
Unruhe war in die Dunkelheit eingekehrt. Kleine Kinder weinten und wollten nach Hause gehen. Inspektor Columbo fühlte, dass er aktiv werden müsse.
"Andy? Du bist Polizist wie ich. Bewache den Ausgang! Niemand soll das Zelt verlassen, bis hier nicht alles geklärt ist", forderte der Detektiv seinen Neffen auf.
"Fühlst du dich berufen, die Lage zu checken, bevor ein Notarzt dir die Wandernde Wendy wegnimmt? Witterst du in dem Unglück einen Fall für dich?"
"Auf jeden Fall gibt es Anlass für eine investigatorische Sichtung."
Andy war nicht dieser Meinung.
"Wir haben doch mit eigenen Augen alles gesehen. Die Hochseilartistin geriet ins Wanken, rutschte ab und stürzte fünf Meter in die Tiefe."
Columbo verbesserte:
"Alles gesehen haben wir nicht. Außerhalb des Lichtkegels war alles dunkel. Ich werde auf die Bühne gehen."
"Manege heißt das!", rief Milano, seinen Großonkel verbessernd.
"Na, Milano, ist dieser aufregende Nachmittag nicht ein tolles Geburtstagsgeschenk? Andy, ich muss mir jetzt einen Eindruck verschaffen, und du hinderst in der Zwischenzeit am Ausgang die Zuschauer daran, von ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Ich bin heute mal dein Chef und das ist ein Dienstbefehl, den du nicht verweigern kannst."
Der Neffe gehorchte seinem Onkel, erklärte seiner Frau und seinem Sohn die Sachlage und begab sich vor den Ausgang des Zirkuszeltes. Columbo spazierte auf die kreisrunde Fläche, auf der die artistischen Darbietungen stattgefunden hatten. Der Zirkusdirektor kam auf ihn zu, um ihn von dort zu verweisen.
"Herr Ansager, Sir? Haben Sie eigentlich auch einen Namen?", fragte Columbo.
"Dick Hogan. Wer sind Sie bitte, warum drängen Sie sich in die Manege? Ich muss Sie bitten, wieder Platz zu nehmen."
"Ihre Moderation hat mir so viel Freude bereitet, da wollte ich Ihnen persönlich mein Lob aussprechen... nur jetzt nach dieser Tragödie bin ich ein wenig enttäuscht von Ihrer Sprachlosigkeit. Aber ich helfe Ihnen da heraus. Inspektor Columbo, Police Department. Veranlassen Sie bitte, dass das Spotlight wieder angeschaltet und auf mich gerichtet wird, denn ich habe dem traumatisierten Publikum etwas mitzuteilen. Darf ich mir zur Beruhigung meiner Nerven eine Zigarre anzünden?"
"Bedaure, Rauchverbot innerhalb des Zeltes wegen Brandgefahr."
"Selbstverständlich, Sir, wir wollen ja nicht, dass jemand während dieser lustigen Zirkusvorführung zu Tode kommt."
Columbo griff sich eigenmächtig das Mikrofon, das Dick Hogan beiseite gelegt hatte, und sprach hinein.
"Liebe Zuschauer, Sie wurden soeben Zeugen davon, wie schrecklich die Vergänglichkeit und menschliche Selbstüberschätzung sein können. Da dem Zirkus Sensatio nun abrupt die Sensationen ausgegangen sind, übernehme ich spontan den nächsten Programmpunkt. Applaus für mich, Inspektor Columbo, meines Zeichens skeptische Schnüffelnase vom Los Angeles Police Department, Mordkommission."
Drei, vier Leute spendeten Beifall, darunter Milano Parma, der sich freute, seinen Großonkel erleuchtet in der Manege zu sehen. Delbert Holtgrave in der ersten Reihe fand weniger Gefallen daran, dass ein Bulle anwesend war, und dachte bei sich: Wieso muss denn ausgerechnet so einer heute im Publikum sitzen, Mensch! Beunruhigt lauschte er den Konsequenzen dessen, was er angerichtet hatte.
"Meine Damen und Herren und Kinder, ich habe mich vorhin selbst damit beauftragt, die Abwanderung der Wandernden Wendy zu untersuchen, bis die Notärzte hier einwandern und pflichtschuldig zu retten versuchen, was nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu retten ist. Am Ausgang wird mein Neffe Andy Parma, der ebenfalls Polizist ist, mit seiner Kanone dafür sorgen, dass keiner der hier Anwesenden aus Ekel oder Langeweile das Zelt verlassen kann. Im Übrigen wird es jetzt erst so richtig spannend dank meiner Ermittlungen, also wozu abhauen wollen?"
"Vielleicht um den Schock schneller zu überwinden?", kam ein Vorschlag aus der dunklen Menge. Columbo widersprach:
"Dieses Erlebnis wird sowieso ein Leben lang in Ihrem Gedächtnis verankert bleiben. Noch in 50 Jahren werden Sie vor Ihren Enkeln stolz von sich behaupten können, heute dabei gewesen zu sein."
"Sobald Leichengeruch in meine Nase steigt, muss ich aber kotzen", argumentierte die Stimme weiter hinten in dem Zelt. Columbo widersprach erneut:
"Als jemand, der direkt daneben steht, kann ich Ihnen versichern, dass ein starker Wohlgeruch die Wandernde Wendy umweht. Sie hat sich wohl so gründlich einparfümiert, dass sie selbst nach einem Todessturz nicht durch die einsetzende Verwesung an Duft verlieren würde. Herr Ansager und Zirkusdirektor, Mr. Hogan, bitte Ihre Stellungnahme. Wie konnte einer so erfahrenen Artistin ein solcher Fehltritt passieren? Ist sie je zuvor vom Hochseil gestürzt?"
Dick Hogan, der die Show aus der Hand gegeben hatte, war nun in der Defensivrolle und beantwortete brav die Fragen des Inspektors.
"Noch nicht ein einziges Mal in dem Jahr, das sie bei uns arbeitete, aber irgendwann kommt halt der Ausnahmefall."
"Ausgelöst wodurch denn bloß?"
"Alles was ich weiß und gehört habe ist, dass Wendy vor dem Sturz fluchte und schimpfte, sie müsse sich konzentrieren. Ich habe aber keinen Schimmer, auf wen sie dabei sauer war, wahrscheinlich auf sich selbst."
Columbo blickte um sich und bemerkte, dass er und Mr. Hogan nicht allein im Spotlight waren.
"Ich stelle fest, dass hier brummende Insekten das Scheinwerferlicht penetrant umschwirren. Das irritiert ja selbst mich hier unten, der ich nicht oben auf dem Seil wandern muss."
"Nicht danach schlagen", empfahl Mr. Hogan, "wenn die stechen können, tun sie es, wenn Sie sie schlagen."
Delbert dachte bei sich, dass der Direktor damit recht hatte, sprach aber nicht. Stumm den Dialog verfolgend, sagte er innerlich zu sich selbst: Seit dieser drollige kleine Mann mit dem Regenmantel die Show an sich gerissen hat, habe ich nicht mehr das Gefühl, dass mein Plan narrensicher war.
Frederic neben ihm dachte: Besorgniserregend, mit welchem Rekordtempo dieser Clowndetektiv sich an die Wahrheit heranrobbt. Wie war Frederic froh, dass nicht er die Bienen hatte befreien müssen!
Columbo in der Manege fuhr fort mit seinen Fragen:
"Gehören die Stechinsekten denn zu Ihren Zirkustieren, eventuell ja zur nächsten Nummer >>Harry Halsweh verschluckt lebende Wespen<<?"
"Eine solche Sensationsnummer ist leider nicht Teil unseres Qualitätsprogramms", bedauerte Dick Hogan.
"Dann müssten die Insekten also von außen gekommen sein."
"Zuerst haben wir sie inmitten so vieler Sensationen bestimmt nicht bemerkt, aber als wir das Zelt abdunkelten und das Licht nur auf Wendy gerichtet war, da drängten sich die Tierchen instinktiv ins Helle. Es ist logisch für mich, dass Wendy nur deshalb die Konzentration verlor."
Columbo war damit noch nicht zufrieden.
"Aber es ist ja nicht bloß ein einzelnes Insekt, sondern ich zähle mittlerweile deren drei. Könnte nicht doch in Ihrem Zelt ein Nest sein, das Sie fahrlässig zu beseitigen versäumt und damit das Unglück begünstigt haben?"
"Nein, ich sehe bei mir keine Mitschuld", wehrte sich Dick Hogan energisch. Columbo knetete bedächtig seine Unterlippe.
"Das kann ich mir denken. Welcher Chef sucht schon gern die Schuld für ein Mitarbeiterversagen bei sich selber? Man müsste einen Insektenfachmann fragen, wie realistisch Ihre Theorie ist, dass sich um diese Jahreszeit drei gleichgeartete Biester zur selben Zeit an denselben Ort verirren."
Columbo schaute sich im Dunkeln des Zeltes um und erhob seine Stimme Richtung Zuschauer:
"Befindet sich zufällig ein Insektenexperte im Zelt unter uns, der mir Auskunft geben könnte?"
Schweigen.
"Niemand, nein?"
Nun eine Stimme aus der zweitletzten Sitzreihe:
"Meld du dich doch, Delbert! Dein Beruf sind schließlich Bienen. Halte dich nicht mit deiner Expertise als Imker zurück!"
Es war Rod, den Delbert beim Hereinkommen begrüßt hatte. Delbert ärgerte sich innerlich: Ein weiterer unglücklicher Umstand, dass mich Rod verständlicherweise jetzt als Bienenexperte outet.
"Na, trau dich schon nach vorne und überzeuge den Clowndetektiv von der Theorie des Direktors!", machte auch Sitznachbar Frederic Druck.
"Wo sitzt dieser Delbert, werter Hinweisgeber?", hakte Columbo bei Rod nach, "ihm fehlt offenbar der Mut, vor vielen Leuten zu sprechen."
"Nie und nimmer!", widersprach Rod, "Delbert Holtgrave veranstaltet doch sogar Führungen; ich habe selber an einer davon teilgenommen. Der kann vor Leuten sprechen! Es ist der grauhaarige Herr mit Krawatte in der vordersten Reihe."
Delbert konnte nicht verhindern, ins Geschehen hineingezogen zu werden. Columbo befahl dem Mitarbeiter am Scheinwerfer, durch Reihe 1 zu leuchten.
"Sind Sie dieser Mister Holtgrave?", fragte Columbo, als das Licht bei Delbert stoppte, der nur noch stumm nicken konnte.
"Ja, warum melden Sie sich denn nicht auf meine Frage?", wurde Columbo vorwurfsvoll lauter. Delbert rechtfertigte sich schüchtern:
"Ich wollte hier bloß unbeteiligt eine spaßige Vorstellung genießen und niemandem Rede und Antwort stehen müssen. Verstehen Sie das?"
Columbo blieb streng.
"Dafür Verständnis zu haben, macht mir Mühe. Es hat sich nun mal jetzt eine Tragödie ereignet und da ist es Ihre Bürgerpflicht, meine polizeiliche Aufklärungsarbeit nicht zu verschleppen."
"Ich bitte um Verzeihung. Fragen Sie mich, was Sie wollen. Beim Thema Bienen weiß ich wirklich bestens Bescheid. Wie war Ihr Name gleich?"
"Inspektor Columbo. Sind das denn Bienen, die hier umherschwirren? Kommen Sie doch bitte mal zu mir ins Scheinwerferlicht auf die Bühne!"
"Manege!", korrigierte ihn Milano Parma aus Sitzreihe 2. Dessen Vater Andy stand unterdessen an der Eingangskasse und diskutierte mit einer Mutter, die das Zelt verlassen wollte:
"Bedaure, meine Dame, Sie können hier jetzt nicht raus, bevor nicht meine Kollegen da sind und wir alle Personalien festgestellt haben."
Die Mutter war außer sich.
"Was soll dieser Unfug? Mein geschocktes Kind weint sich sein Herz aus dem Leib und will nur noch weg von hier."
"Polizeiroutine, Madame. Wenn irgendwo an einem öffentlichen Ort ein Mensch auf ungewöhnliche Weise zu Tode kommt, wollen wir wissen, wer alles da war. Falls Ihnen die Regularien in diesem Bundesstaat nicht passen, wandern Sie aus in einen anderen!"
KAPITEL 6
Delbert Holtgrave begab sich nun auf Columbos Aufforderung hin in die Manege.
"Binden Sie sich lieber Ihren offenen Schuhriemen zu, Mister Holtgrave, bevor Sie mir auch noch in die Speere stürzen!"
"Oh ja, danke, Inspektor!"
Delbert ging gehorsam in die Knie, um auch dieser Aufforderung nachzukommen, und band sich den offenen Schuh zu. Währenddessen war für Columbo der Blickwinkel günstig, um mit seinem Adlerauge die Schachtel, aus der Delbert die Bienen freigelassen hatte, in der Brusttasche des Hemdes zu erspähen.
"Danke, dass Sie auf meinen Schuhriemen geachtet haben", sagte Delbert anständig.
"Tja, so ein Spotlight hilft enorm dabei, sich auf kleine Details fokussieren zu können. Sie haben aber eine ulkige Zigarettenschachtel in der Hemdtasche! Oder ist das eine Streichholzschachtel? Sind ja lauter Löcher drin."
Es war zu spät für Delbert, die Hemdtasche noch unter dem Jackett zu verbergen.
"Ja, das... äh... ist nur mein... eh... Glücksbringer."
"Ach bitte, darf ich mal sehen? Als abergläubischer Spinner habe ich eine Schwäche für skurrile Talismane."
Widerwillig und ohne was zu sagen rückte Delbert seinen "Glücksbringer" raus.
"Eine leere Pappschachtel mit Löchern. Reizend", befand Columbo.
Delbert gab zur Erklärung:
"Ja, das mag als Glücksbringer lächerlich erscheinen, aber hinter dem hohen ideellen Wert für mich steht eine sentimentale, persönliche Geschichte, die hier glaube ich nichts zur Situation beiträgt. Was aber waren noch gleich Ihre eiligen Sachfragen an mich?", lenkte Delbert von seiner Pappschachtel ab.
"Ach so, ja... also, würden Sie sagen, es ist realitätsnah, dass sich zu dieser herbstlichen Jahresphase gleich drei Stechinsekten gleicher Gattung gemeinsam in dieses Zirkuszelt verfliegen können?", fragte Columbo den Fachmann.
"Die müssten sich mal niederlassen, so dass ich sie mir in Ruhe betrachten kann."
"Vielleicht fangen Sie mal eines dieser Bienenbiester schmerzlos aus der Luft, bevor der Notarzt das Zelt stürmt und der Luftzug sie alle vertreibt. Sie könnten das Tierchen in Ihre Lochschachtel sperren, wo es wegen der Löcher wenigstens atmen kann", schlug Columbo vor. Ungehalten entgegnete Delbert:
"Ich finde den Ausdruck Bienenbiester für unsere lebenswichtigen Partner nicht angebracht, Herr Inspektor. Von den Nahrungsmitteln, die Sie essen, wird ein erheblicher Anteil durch Feldernte gewonnen und drei Viertel davon sind abhängig von der Bestäubung durch Insekten."
"Klären Sie mich auf, Mr. Holtgrave! Das ist die Gelegenheit, mich weiterzubilden."
"Insekten sind wahre Alleskönner, Mr. Columbo. Sie transportieren Samen quer durch Wald und Flur, lockern die Böden auf, vertilgen Tierleichen und Kothaufen, bauen Laub und totes Holz ab und halten die Böden dadurch fruchtbar. Sie reinigen Gewässer und erhalten unser Ökosystem. Es sind keine Biester."
"Und sie können sogar Menschen aus fünf Metern Höhe in den Tod stürzen lassen. Die Biester haben echt allerhand drauf!", gab Columbo spitz zur Antwort. Delbert ließ sich auf die Diskussion ein:
"Meiner Meinung nach ist die Wandernde Wendy selber schuld, dass sie waghalsig und ohne Absicherung sich selbst überschätzend auf einem dünnen Hochseil herumspaziert ist. Und außerdem finde ich, der Notarzt sollte längst hier sein."
"Ist Malibu wirklich so eine Servicewüste geworden, dass es über zehn Minuten dauern darf, bis ein Rettungswagen eintrifft? Ich bin nicht von hier; ich bin aus Los Angeles."
"Ich weiß es nicht; ich bin auch aus Los Angeles", antwortete Delbert.
"Na, so ein Zufall! Dann können wir ja fast zusammen nach Hause fahren! Ich habe nämlich meinen Wagen daheim gelassen. Meiner Frau ging es nicht gut. Sie braucht ihn vielleicht für eine Fahrt zum Doktor."
Das interessierte Delbert nun wirklich nicht. Er konzentrierte sich auf seine Bienen.
"Ah, da setzt sich eins der Tierchen auf einen Speer! Also ja, es sind definitiv einheimische Honigwildbienen, die an sonnigen Oktobertagen wie heute durchaus im Freien anzutreffen sind."
"Honigbienen...", wiederholte Columbo, "dabei liebe ich an und für sich Bienenhonig. Und dann passiert sowas wie hier! Könnte ich eigentlich meinen Honig auch bei Ihnen kaufen anstatt im Shopping Center, wenn Sie doch Imker sind?"
"Der Honig aus meiner Hausimkerei ist nicht nur köstlicher als jener aus Ihrem Supermarkt, sondern auch preisgünstiger. Und ich habe fünf verschiedene Sorten zur Wahl und gebe Ihnen sogar noch Mengenrabatt beim Kauf von drei oder mehr Gläsern."
"Also nennen Sie mir bitte Ihre Straße, Mister Holtgrave, dann komme ich morgen Vormittag mal vorbei", drohte Columbo einen Besuch an.
"Linda Vista Avenue."
Columbo riss freudig seine Arme hoch.
"Die ist ja in Pasadena! Ganz in der Nähe meines ersten amerikanischen Wohnsitzes, nachdem ich als Kind aus Italien mit meinen Eltern in die Staaten eingewandert war. Wie nah wir beieinander wohnen!"
So ganz konnte Mr. Holtgrave Columbos Freude nicht teilen, ließ sich das aber nicht anmerken. Columbo wandte sich wieder dem Zirkusdirektor zu.
"Ach äh, Mister Hogan? Sie wollte ich auch noch was gefragt haben. Sie standen doch seit Beginn der Vorstellung im Scheinwerferlicht. Haben Sie da schon die Bienen das erste Mal bemerkt?"
"Nein."
"Wann haben Sie sie zuerst bemerkt?"
"Die fielen mir erst nach Wendys Sturz auf. Vorher war ich mit anderen optischen Eindrücken konfrontiert."
Columbo knetete sich wieder die Unterlippe.
"Das heißt, ich muss an eine satte Portion Zufall glauben, dass die Biester ausgerechnet dann vom Scheinwerfer angelockt wurden, als es für eine Artistin gefährlich werden konnte. Bei jeder vorherigen Nummer hätten sie nicht so verheerende Folgen gehabt."
Delbert widersprach:
"Doch, den Balancekünstler auf den vielen Bällen hätten sie auch aus der Konzentration bringen können."
"Aber auf den Balltypen war kein einzelner Lichtstrahl gerichtet, weil das Zelt erst für Wendy abgedunkelt worden war", erinnerte sich Columbo.
Dick Hogan ergriff sich Columbos Mikrofon.
"Ich würde gerne dem heimlichen Verehrer, der mit Wendy eine Verabredung für hinterher hatte, persönlich mein Beileid aussprechen. Er muss sich ja unter Ihnen im Zelt befinden und seinen Schwarm scheitern gesehen haben. Wer ist denn der Unglückliche? Möchten Sie sich nicht zu Wort melden?"
Columbo horchte auf.
"Wie war das, Mr. Hogan? Jemand aus dem Publikum ist mit der Wandernden Wendy persönlich bekannt gewesen? Sind Sie sicher?"
"Ein Date würde sich Wendy doch wohl nicht ausdenken, um damit anzugeben."
"Was genau hat sie vor der Vorstellung geäußert?"
"Dass ein Verehrer, der sich neulich schon einmal in Malibu unsere sensationelle Show angesehen hat, Wendy eine kleine Aufmerksamkeit zum Geschenk machte und sich heute nach der Vorstellung mit ihr treffen wollte."
Delbert schluckte. Das war wieder etwas, das Columbo nicht erfahren sollte.
"Hochinteressant", befand Columbo, "man sollte doch annehmen, dass dieser Mann sich das Programm heute zum zweiten Mal ansehen würde, um seine Angehimmelte nochmal seiltanzen sehen zu können. Aber niemand von den Anwesenden will es gewesen sein? Oder sehen wir bloß den erhobenen Arm nicht, weil das Zelt immer noch aus Pietät abgedunkelt ist? Vielleicht mag der auch wieder nicht Teil meiner Ermittlung werden. Bitte nochmal Spotlight auf alle Zuschauer!"
Als sei Columbo der neue Zirkusdirektor, gehorchte ihm der Mitarbeiter an der Beleuchtung und ließ sein Licht durch alle Reihen wandern. Als Milano erleuchtet wurde, winkte er seinem Großonkel freudig zu; Columbo winkte zurück.
"Mr. Hogan, wen von denen haben Sie diese Woche schon in einer früheren Aufführung an der Kasse am Eingang begrüßt?"
"Mein Problem dabei ist, dass ich nicht mehr weiß, wen ich noch als Mann klassifizieren darf, ohne als transignorant oder transfeindlich zu gelten."
"Keine Sorge deswegen. Sie haben oft genug die Transmenschen in Ihrem Ansagetext vor den Damen, die man regulär als Erste nennt, adressiert."
Mehrere im Zelt lachten; einige spendeten Beifall. Der Zirkusdirektor entschied sich:
"Den im roten Pullover."
Columbo deutete mit dem freien Zeigefinger auf Frederic Southwisher.
"Sie meinen den Herrn gleich hier in Sitzreihe 1? Der, der direkt neben Mister Holtgrave gesessen hat?"
"Ja, der war diese Woche schon mal mein werter Gast. Danke fürs Wiederkommen!"
Frederic nickte gnädig. Columbo gab sein Bestes, ihn zum Reden zu bringen.
"Machen Sie sich doch mal locker, mein Herr! Und dann sprechen Sie sich tapfer aus! Hat es was zu bedeuten, dass Sie zum zweiten Mal dieser sensationellen Show beiwohnen?"
Was man zugeben konnte, gab Frederic bereitwillig zu:
"Jawohl, Delbert und ich sind gemeinsam hier. Ich war bereits mit meiner Frau Mathilda in einer früheren Vorstellung. Da ich mit ihr glücklich verheiratet bin, käme es mir aber im Traum nicht in den Sinn, mit einer Anderen anzubändeln."
"Danke für Ihr Statement. Sie waren sehr kooperativ", lobte Columbo die Aussage, als er das hysterische Herannahen eines Martinshorns vernahm. Er streckte seinen Zeigefinger in die Luft.
"Gleich wird es endlich wieder hell im Zelt und unsere gemütliche Zusammenkunft wird sich auflösen."
Als der Rettungswagen mit quietschenden Reifen vorm Zirkuszelt zum Stehen kam, beschwerte sich Andy:
"Warum hat denn das eine Viertelstunde gedauert, Mensch?"
Columbo, Mr. Hogan und Andy halfen beim Öffnen des Eingangs. Columbo gab den Hinweis:
"Ihr braucht eine Leiter, Jungs! Die Tote klebt in zwei Metern Höhe auf den Speerspitzen."
Irritiert entgegnete ein Sanitäter:
"Wieso die Tote? Wir kommen, um Leben zu retten!"
"Aber der Tod ist des Lebens logischste Konsequenz. Vor allem nach einem Sturz aus fünf Metern Vertikale."
Die Notärzte trugen die Leiter herbei und schoben Wendys Körper die Speerspitzen hoch, um ihn bergen zu können. Columbo sprach wieder zum Publikum:
"Verehrte Damen und Herren, meine lieben Kinder. Wie mir die Experten soeben bestätigt haben, hat die Artistin einen Totalschaden. Die übrigen Programmpunkte entfallen. Direktor Hogan lässt Sie erschüttert bitten, Ihren Heimweg anzutreten."
"Totalschaden sagt man nur bei Autos!", rief Milano aus der zweiten Reihe seinem Großonkel zu.
"Ich hoffe, Sie hatten einen unterhaltsamen Nachmittag. Wenn ja, empfehlen Sie den Zirkus Sensatio gerne weiter. Wenn nein, behalten Sie es bitte für sich. Tragischer Höhepunkt der heutigen Show war unbestritten die außerplanmäßige Abwanderung der Wandernden Wendy, für die Sie bitte, bevor Sie das Zelt verlassen, eine Schweigeminute einlegen."
"Fang mit dem Schweigen bei dir selbst an, Schwadlappen!", kommentierte lauthals jemand aus Reihe 4, und ein Jugendlicher forderte:
"Ich will einen Teil meines Eintrittsgeldes zurück; ich bekam nicht das volle Programm zu sehen!"
Geschwächt gestand Dick Hogan:
"Wie bin ich froh, dass das die letzte Aufführung in dieser Unglücksstadt war und wir morgen früh weiterziehen!"
Columbo musste dem Direktor dieses Wunschdenken einschränken:
"Oh, daraus wird leider vorerst nichts, Mr. Hogan, nicht solange unsere Ermittlungen laufen."
"Was?", stieß Hogan entsetzt hervor. "Wir haben Termine in anderen Städten!"
"Das bedaure ich ja aufrichtig, Sir, aber die Anwesenheit Ihrer Mitarbeiter wird hier noch im Rahmen polizeilicher Ermittlungen benötigt. Danach dürfen Sie Malibu für immer fern bleiben."
Dick Hogan ließ machtlos die Arme hängen, während das Zirkuszelt leerer und leerer wurde.
"Mein Begleiter und ich verabschieden uns dann auch, Inspektor", sagte Mr. Holtgrave freundlich, "und vergessen Sie nicht, morgen wegen des Honigs bei mir vorbei zu schauen."
"Vielleicht übernachte ich hier in Malibu bei meinem Neffen, aber sobald ich wieder in L.A. bin, werde ich das tun, Ehrenwort!"
Fortsetzung folgt